Der Begriff der Räte oder Räterepublik ist in der globalen Erinnerung untrennbar verbunden mit der Russländischen Revolution von 1917. Räte oder Arbeiterräte sind mitunter ein Synonym für den kommunistischen Einparteienstaat. Ihre Ursprünge liegen jedoch woanders: die europäische Bewegung der Arbeiterräte entstand gegen Ende des Ersten Weltkrieges aus Streikversammlungen. Räte ersetzten in einer Krise Parteivorstand und Gewerkschaftsführung, sie hatten den Anspruch, über Parteigrenzen hinweg die Interessen der arbeitenden Menschen zu vertreten. Solche Räte gab es nicht nur in Russland. Sie waren von 1916-1920 Teil einer europaweiten Sozialen Bewegung, die das Ende des Weltkriegs forderte – und durchsetzte.
Bereits von zeitgenössischen Gegnern dieser Bewegung wurde behauptet, die Räte in Westeuropa würden das bolschewistische Modell nachahmen. Diese Vorstellung ist jedoch historisch nicht haltbar. Räte von Arbeitern und Soldaten, aber auch Hausfrauen, Bauern und anderen Gruppen formten sich spontan und unabhängig voneinander – sie reagierten auf den ersten Weltkrieg als gemeinsame, globale Herausforderung. Der erste Arbeiterrat in Deutschland entstand bereits im April 1917 in Leipzig. Die Räte in Deutschland richteten sich gegen den Krieg selbst, aber auch gegen die damit verbundenen Härten wie Lebensmittelknappheit.
Während anderswo die Bauern und ihre Forderung nach Landreform eine große Rolle spielten, war die deutsche Rätebewegung von städtischen Arbeitern, bei Streiks auch von Arbeiterinnen sowie meuternden Soldaten getragen – Soldaten, die oft selbst Arbeiter waren. Ihre Vorbilder waren die Versammlungen der Gewerkschaften und der deutschen Sozialdemokratie (SPD). Viele deutsche Sozialdemokraten waren in den Jahren 1918 und 1919 aktiv in den Räten – auch wenn ihre Parteiführung die Räte bekämpfte. Die deutsche Rätebewegung währte kurz, von etwa 1917 bis ins Frühjahr 1920, danach ging die Politik wieder in die Hände politischer Parteien über.
Die deutsche Rätebewegung erreichte im November 1918 zwei Erfolge mit globaler Wirkung: das Ende des Ersten Weltkrieges und den Übergang Deutschlands vom Kaiserreich zur Demokratie. In der Historiographie des Kalten Krieges wurden diese Erfolge kaum gewürdigt, auch hier galten die Räte oft fälschlicherweise als Nachahmer der Bolschewiki. Nach der Wiedervereinigung im Jahr 1989, insbesondere zum 100. Jahrestag der Deutschen Revolution von 1918 im Jahr 2018 ist diese Sicht jedoch in der deutschen Geschichtswissenschaft und Erinnerungspolitik differenzierter: Die Rätebewegung wird als Geburtshelferin der Demokratie anerkannt.
Das Versagen der Arbeiterparteien 1914
Die deutsche Revolution vom November 1918 ist nicht denkbar ohne das historische Versagen der europäischen Arbeiterbewegung im August 1914. Diese Bewegung vertrat die Interessen der Arbeitenden, ihre innere Organisation war demokratisch, dominant war die Sozialdemokratische Partei als Muster – die Deutsche SPD war die Größte unter diesen Parteien. Gerade in Monarchien wie Deutschland oder Österreich forderten diese Arbeiterparteien eine Demokratisierung von Gesellschaft und Staat. Gleichzeitig hatten die sozialdemokratischen und sozialistischen Parteien stets vor einem Krieg gewarnt, insbesondere in den Konflikten um Kolonialbesitz zwischen Deutschland, Frankreich und England ab Beginn des 20. Jahrhunderts. Die deutsche Sozialdemokratie und die mit ihr verbundenen Gewerkschaften weigerten sich, ihre Regierungen bei der Besetzung fremder Territorien zu unterstützen. Sie vertraten diese Position in einer globalen Vereinigung, der „Zweiten Internationale“. Doch 1914 zerbrach diese Einheit. In Deutschland, Frankreich und fast allen anderen europäischen Staaten stellten sich die Arbeiterparteien geschlossen an die Seite ihrer jeweiligen Regierungen und unterstützten den Krieg.
Karl Liebknecht spricht auf der Friedenskundgebung der SPD im Treptower Park, Berlin, 3. September 1911. Quelle: Deutsches Historisches Museum, Berlin
Der gegen den Krieg eingestellte linke Flügel der deutschen Sozialdemokratie war zunächst unfähig zu irgendeiner Reaktion. Schock und Realitätsverleugnung bestimmten das Bild. Karl Liebknecht, ein prominenter Kritiker des deutschen Militarismus, stimmte am 4. August 1914 mit der Mehrheit der SPD-Reichstagsfraktion für die Bewilligung von Kriegskrediten - aus Fraktionsdisziplin. Es dauerte Monate, bis sich im Parlament Widerstand regte. Erst in einer zweiten Abstimmung im Dezember 1914 verweigerte Karl Liebknecht als einziger offen die Zustimmung zum Krieg. Der Abgeordnete Fritz Kunert verweigerte sich immerhin passiv und verbrachte die Sitzung auf den Toiletten des Reichstagsgebäudes. Erst 1916 formierte sich im Parlament eine geschlossene Opposition, die sich nach deren Ausschluss durch die Mehrheits-SPD als „Unabhängige Sozialdemokratische Partei“ (USPD) konstituierte.
Massenstreik als Debatte
Die Hilflosigkeit der Sozialdemokratie bei Kriegsbeginn war Ausdruck einer lang währenden Selbstblockade der Partei. Widerstrebende Flügel wurden nur noch durch die Klammer der Disziplin zusammengehalten. Hervorragende Wahlergebnisse wie zuletzt 1912 verdeckten diese Tatsache und trieben die Partei noch tiefer in die Sackgasse des Abwartens – die Wahlergebnisse stiegen, vielleicht würde der Erfolg von selber kommen. Die SPD verweigerte jedoch die Einsicht, dass im Deutschen Kaiserreich das Parlament nur begrenzte Rechte hatte – selbst eine Mehrheit bei den Wahlen hätte nicht automatisch die erhoffte Demokratisierung gebracht. Nach wie vor war in vielen Teilstaaten des föderalen Reiches ein reaktionäres Dreiklassenwahlrecht in Kraft, bei dem Arbeiter weniger Stimmrechte hatten als Steuerzahler mit hohem Einkommen.
Eduard Bernstein, Anführer der „Revisionisten“ auf dem rechten Flügel der SPD, hatte diese Blockade durchaus gesehen. Seine ab 1896 formulierten Vorschläge kamen jedoch einer Selbstaufgabe gleich: die Partei solle sich in eine "demokratisch-sozialistische Reformpartei" verwandeln, ihre Revolutionsphantasien aufgeben und auf Koalitionen mit dem liberalen Bürgertum setzen. Die Parteilinke konnte dies im Verbund mit dem "orthodoxen Zentrum" um Parteiführer August Bebel noch verhindern. Ironischerweise diente ihr dabei gerade die Parteidisziplin als Argument gegen die revisionistischen "Abweichler".
Rosa Luxemburg, um 1910. Quelle: Deutsches Historisches Museum, Berlin
Ein Ausbruchsversuch der SPD-Linken um Rosa Luxemburg sah vor, mit der Durchführung von Massenstreiks soziale und demokratische Forderungen durchzusetzen. In Schweden und Belgien hatte durch politische Massenstreiks das allgemeine Wahlrecht erkämpft werden können, in der russländischen Revolution des Jahres 1905 war der Massenstreik erfolgreichstes Kampfmittel – auch hier musste zeitweise ein Parlament eingesetzt werden. Sogar unter den Führern der Revisionisten fanden sich daher Befürworter des Massenstreiks. Eduard Bernstein erklärte sich für den Massenstreik zur Erzwingung des allgemeinen Wahlrechts. Der Massenstreik wurde vom Jenaer Parteitag des Jahres 1905 jedoch nicht als offensive Taktik empfohlen, sondern nur als Verteidigung im Falle einer Einschränkung der Gewerkschaftsarbeit oder bei drohenden Verschlechterungen im Wahlrecht.
Die eng mit der SPD verbundenen Vorstände der deutschen Gewerkschaften waren gegen Massenstreiks. Sie waren Praktiker, die sich nicht zum Revisionismus bekannten, aber faktisch eine reformistische Politik betrieben. Auf dem Kölner Gewerkschaftskongress von 1905 erklärten sie Massenstreiks für "indiskutabel" und "verwerflich", die Taktik sei eine Losung von "Anarchisten und Leuten ohne jegliche Erfahrung". Der Mannheimer Parteitag von 1906 fand schließlich den Formelkompromiss, dass Partei und Gewerkschaften sich in dieser Frage abstimmen würden. Damit hatten die Gewerkschaftsführungen ein faktisches Vetorecht, der politische Massenstreik war begraben.
Massenstreik als Realität
Erst im Weltkrieg wurde der Massenstreik in Deutschland Realität – nicht als Partei- oder Gewerkschaftsbeschluss, sondern als soziale Bewegung von unten. Die Gewerkschaftsführungen hatten sich bereits zwei Tage vor Bewilligung der Kriegskredite auf einen "Burgfrieden" mit der Regierung geeinigt. Im Kriege sollten Streiks nicht stattfinden. Man sah den Krieg als Verteidigungskrieg – obwohl 1914 deutsche Soldaten den Krieg gestartet hatten, indem sie Belgien und Luxemburg überfielen.
Widerstand gab es hier nur bei unteren Funktionären, etwa in der Berliner Ortsverwaltung des Deutschen Metallarbeiter-Verbandes (DMV), dem Vorläufer der heutigen Industriegewerkschaft Metall (IG Metall, seit 1949). Hier weigerten sich die Dreher unter ihrem Berliner Branchenleiter Richard Müller bereits 1914, auf Arbeitskämpfe zu verzichten. Trotz Krieg und Burgfrieden führten sie Streiks für höhere Löhne und bessere Arbeitsbedingungen durch. Aufgrund ihrer Wichtigkeit als Facharbeiter hatten sie damit Erfolg. Sie konnten sich sowohl gegen die Repression der Kaiserlichen Behörden als auch gegen die Spitze ihrer eigenen Gewerkschaft durchsetzen.
Aus diesen ersten, zunächst eher lohnpolitisch motivierten Ansätzen von Ungehorsam entstand im Verlaufe des Krieges das Netzwerk der "Revolutionären Obleute". Die Obleute waren eine Gruppe von Betriebsvertrauensleuten in den Großbetrieben der Berliner Metallindustrie. Sie waren Gewerkschaftsmitglieder, kannten sich seit Jahren aus gemeinsamer Arbeit im Metallarbeiterverband DMV. Jeder Großbetrieb hatte einen Vertrauensmann. Die Obleute der Großbetriebe wiederum hatten ihrerseits Vertrauensleute in den einzelnen Abteilungen und Werkstätten ihrer Firma, so dass das Netzwerk trotz seiner Größe von nur etwa 50 Personen Einfluß auf Hunderttausende Arbeiter und Arbeiterinnen hatte. Aufgenommen in den kleinen, informellen Kreis der dissidierenden Obleute wurde nur, wer wirklich das Vertrauen der Kollegen besaß.
Richard Müller. Datum unbekannt. Quelle: workerscontrol.net
Die Obleute agierten aufgrund der Repression im Kriege als Geheimorganisation. Sie waren Teil der USPD, handelten jedoch völlig autonom von dieser. Vor allem nutzten sie die USPD, um Kollegen außerhalb von Berlin zu treffen und ihr Netzwerk zu erweitern. Oft trieben die Obleute die Partei zum Handeln. Etwa im großen Massenstreik vom Januar 1918, der bis zur Revolution größten Aktion der Obleute. Bis zu 400.000 Menschen allein in Berlin sollen hier gestreikt haben, darunter viele Frauen. Die Rüstungsindustrie kam komplett zum Erliegen und in über einem Dutzend Städten gab es ähnliche Bewegungen. Die Streikenden forderten ein Ende des Ersten Weltkrieges, sofortige Presse- und Versammlungsfreiheit sowie eine Demokratisierung des deutschen Staates. Dies war zunächst ein bürgerlich-pazifistisches Programm.
Der Krieg war ab 1916 zunehmend unbeliebt, da es sich nicht um einen Verteidigungskrieg handelte – Deutschland war 1914 nicht überfallen worden, auch wenn die Regierung dies suggerierte, die Rolle Deutschlands als Angreifer wurde im Verlauf des Krieges immer deutlicher sichtbar. Nicht nur der Überfall auf Belgien verstieß gegen das Völkerrecht, auch die Besetzung der Ukraine ab 1918 durch deutsche und österreichische Truppen war ein Akt der Kolonisation. Rechte Parteien und Politiker in Deutschland sahen diese Besatzung als Erfolg, führten schon ab 1916 offene Debatten über „Kriegsziele“. Sie drehten sich samt und sonders um die Eroberung fremder Territorien. Immer größere Kreise der deutschen Bevölkerung, insbesondere Arbeiter und ärmere Schichten, waren nicht mehr bereit, für diese Kriegsziele zu sterben und zu hungern.
Die Organisierung der Obleute
Vorangegangen war den Streiks der Obleute eine lange Organisationspraxis. Am Rande offizieller Treffen der USPD und des DMV, aber auch auf vermeintlich unpolitischen Bierfesten im Rahmen der Gewerkschaft hatten die Obleute ihr Netzwerk erweitert. Seit dem Verbandstag des DMV im Jahr 1917 verfügten sie auch über deutschlandweite Verbindungen.
Ihre erste Massenaktion war der Liebknechtstreik im Juni 1916 - eine Solidaritätsbewegung von 50.000 Berliner Arbeitern für den am 1. Mai verhafteten Abgeordneten Karl Liebknecht. Die Aktion war ein Fanal, dennoch konnte sie die Freilassung Liebknechts nicht erzwingen. Er verblieb bis zu einer Amnestie im Oktober 1918 im Gefängnis. Der zweite politische Massenstreik, der "Brotstreik" des Jahres 1917 war wesentlich größer: er drehte sich hauptsächlich um die Verbesserung der Ernährungslage, hier beteiligten sich auch viele Arbeiterinnen und Hausfrauen - in den späteren Räten waren sie unterrepräsentiert.
In diesem Aufgreifen der Alltagsnöte der Bevölkerung lag die Stärke der Obleute. Sie schlugen nur los, wenn sie die Stimmung für reif hielten, trotz ihrer faktischen Stellung als Avantgarde unternahmen sie niemals Aktionen, die die Masse der Arbeitenden nicht mittragen würden. Mit der von Karl Liebknecht und Rosa Luxemburg angeführten Organisation namens „Spartakusbund“ hatten die Obleute deshalb heftige Kontroversen. Der Spartakusbund war eine Gruppe linker Kriegsgegner und ebenfalls Teil der USPD. Er verlangte eine ständige Bewegung, wollte Aktionen um jeden Preis und vertrat die These, gegenseitige Provokationen von Arbeiterklasse und Staatsmacht würden sich schließlich zum Aufstand steigern. Die Obleute hingegen waren der Ansicht, dass dieser Art Voluntarismus wenig Anklang finden würde und gingen ihre eigenen Wege. Sie behielten recht: alle politischen Massenstreiks und auch die Novemberrevolution in Berlin wurden von ihnen ausgelöst.
Dennoch waren die Obleute auf die Gruppe Spartakus angewiesen. Die Gruppe hatte mehr Intellektuelle aufzuweisen, die von ihr veröffentlichten „Spartakusbriefe“ waren sehr wichtig, um die Bevölkerung über die Rolle Deutschlands als Aggressor im Krieg aufzuklären. Auch für die Wendung der Obleute vom Lohnkampf hin zur revolutionären Gruppe war der Einfluss der Spartakusgruppe nicht zu unterschätzen. Doch Räte und der Sturz des Kaisers im November 1918 wurden nicht von Liebknecht und Luxemburg organisiert. Diese saßen während der entscheidenden Jahre 1916 - 1918 im Gefängnis. Ihre Anhänger hatten zwar politischen Einfluss, aber keine Basis in den Betrieben. Die Obleute dagegen hatten diese Basis – sie nutzten sie zur Vorbereitung von Massenstreiks.
Spartakusbrief, Nr. 1, 20. September 1916. Quelle: The Charnel-House
Aus Streiks werden Räte
Die Leitungen dieser Streiks waren Vorläufer der Räte: offene Versammlungen, in denen die Streikleitung gewählt wurde von allen Anwesenden. Während der Streiks mussten die Obleute nicht mehr geheim agieren – sie konnten offen handeln. Im Laufe des Jahres 1918 nannten sich die Streikleitungen auch „Arbeiterrat“, teils findet sich diese Bezeichnung schon 1917. Die Räte entstanden aus einem Machtvakuum heraus: die Gewerkschaftsführung organisierte keine Streiks und konnte die Interessen der Arbeitenden nicht mehr vertreten, auch die Mehrheit der SPD verurteilte die Streikenden – und die USPD agierte nur im parlamentarischen Raum, hatte aber nicht die Breite in den Betrieben. Die Obleute und später die Arbeiterräte waren eine Revolte innerhalb der Gewerkschaften, unter starker Beteiligung von Arbeitenden, die nicht Gewerkschaftsmitglied waren. Die Räte funktionierten nach einem ur-demokratischen Prinzip: jede Person hatte eine Stimme, jede Versammlung durfte die Streikleitung oder den Rat jederzeit wieder abwählen. Mitglieder aller Parteien waren in den Räten aktiv.
Die Soldatenräte dagegen entstanden unabhängig von den Obleuten. Sie waren Versammlungen von Soldaten, die ihre Befehle verweigerten – zuerst in Kiel 1918, als die Offiziere einen selbstmörderischen letzten Zug der Marine gegen die überlegene englische Flotte forderten.
Von den Räten zum Sturz des Kaisers
Die Kriegsmüdigkeit führte im November 1918 zum Sturz des Kaisers und zum Waffenstillstand. In den als „Novemberrevolution“ bezeichneten Ereignissen waren Armee und Marine das entscheidende Element, die zweitwichtigste Kraft war die städtische Arbeiterschaft. Im Herbst 1918 war der Zusammenbruch der Front offensichtlich, das Ende der Disziplin im Heer war eine Voraussetzung für jede revolutionäre Regung, die Revolte der Kieler Matrosen das Startsignal der Deutschen Revolution. Jetzt sahen auch die Obleute ihren Tag gekommen und organisierten einen bewaffneten Aufstand für Berlin.
Heftige Debatten gab es dabei zwischen den Kontrahenten Richard Müller als Sprecher der Obleute und Karl Liebknecht als Führungsfigur der Spartakusgruppe: Liebknecht, frisch aus dem Gefängnis entlassen und tatendurstig, verlangte Anfang November ein sofortiges Vorgehen. Müller und die Obleute jedoch hatten Skrupel: die Berliner Truppen waren nach wie vor Kaisertreu, die Obleute befürchteten ein Blutbad und wollten den Generalstreik erst am 11. November starten. Am Ende wurde kurzfristig der 9. November festgesetzt, die Bewegung ließ sich nicht mehr aufhalten und siegte ohne größeren Widerstand.
Der Kaiser musste abdanken, innerhalb von zwei Tagen wurde ein Waffenstillstand geschlossen und der verhasste Krieg beendet. Arbeiter- und Soldatenräte übernahmen die politische Macht im ganzen Land – auch in kleineren und mittelgroßen Städten entstanden spontan Räte, Vorbild waren die Streikleitungen der vorangegangenen Massenstreiks, insbesondere des Januarstreiks von 1918. Waren die Massenstreiks im Kriege hauptsächlich von pazifistischen und demokratischen Forderungen geprägt, so dominierten in der Revolution sozialistische Forderungen. Ziel war eine Demokratie, nicht nur im Parlament, sondern auch in der Fabrik. Nicht der Eigentümer sollte regieren, sondern die Räte sollten über die Produktion und Arbeitsbedingungen entscheiden.
Revolutionäre Demonstranten am 9. November 1918 in Berlin, Unter den Linden. Quelle: Wikimedia
In dem revolutionären Umbruch wurden Karl Liebknecht und Rosa Luxemburg ebenso wie Richard Müller und der USPD-Politiker Ernst Däumig zentrale Figuren der Rätebewegung. Müller war Vorsitzender des "Berliner Vollzugsrates der Arbeiter- und Soldatenräte", als Anführer dieses höchsten Revolutionsorgans sogar nominell Staatsoberhaupt, bis im Dezember ein erster allgemeiner Rätekongress tagte. Däumig und Müller verfassten gemeinsam Schriften zum Rätessystem und wollten dessen Institutionalisierung: Räte sollten die Rolle des Parlaments übernehmen, Politik und Wirtschaft nicht mehr getrennt, sondern als Einheit verwaltet werden.
Jedoch mussten Müller und Däumig dabei Niederlage um Niederlage hinnehmen. So fehlte ihnen die Unterstützung der Soldaten. Diese waren politisch eher unerfahren und ordneten sich im Zweifelsfall der SPD unter, die wiederum mit Parolen wie "Ruhe und Ordnung" und dem Verlangen nach einer Nationalversammlung – also einem Parlament mobilisierte. Sie wollte an die Praxis der Vorkriegszeit anknüpfen: eine Reform im Parlament, keine überstürzten Änderungen. Zuerst unterstützten die Soldaten eher die SPD, aber nach wenigen Wochen lösten sich die Soldatenräte ganz auf: zu Weihnachten fuhren fast alle Soldaten nach Hause, übrig blieben Heimatlose und Kaisertreue, die sich in Freikorps organisierten und die Basis einer Konterrevolution stellten.
Das Ende der Rätebewegung
Reichsrätekongress, Berlin, 16.-21. Dezember 1918. Auf dem Podium, von links nach rechts: Max Cohen, Philipp Scheidemann, Otto Landsberg, Hugo Haase, Friedrich Ebert und Emil Barth. Quelle: Bundesarchiv
Die Arbeiterräte hatten zwar faktisch die Macht in den Fabriken, jedoch hatten sie mit dem Sturz des Kaisers am 9. November nicht wirklich die Regierung übernommen. Die Rätebewegung dominierte den Berliner Vollzugsrat als nominell höchster Rat der Republik, doch dieser war durch Konflikte zwischen USPD und SPD blockiert. Und die eigentliche Regierung war ein „Rat der Volksbeauftragten“ aus sechs Personen. Hier war mit Emil Barth nur eine Figur aus der Rätebewegung vertreten, dominiert wurde der Rat vom Sozialdemokraten Friedrich Ebert. Der wiederum setzte auf ein Bündnis mit dem Militär. Die SPD hatte damit eine militärische Unterstützung, die Rätebewegung nicht.
Trotz großer Mobilisierungen 1919 zerfiel die Rätebewegung bis 1920. Sie litt an Unschlüssigkeit, hatte die entscheidenden Führungspositionen 1918 nicht besetzen können. Auch der erste Kongress aller deutschen Räte, der „Reichsrätekongress“ entschied sich im Dezember 1918 gegen das Rätesystem und für die Wahl eines Parlaments. Bei der Wahl dieses ersten demokratischen Parlaments im Januar 1919 erlangte die USPD als einzige Partei, die das Rätesystem unterstützte, nur eine Minderheit der Stimmen. Die Mehrheit hatten Bürgerliche Kräfte. Die Rätebewegung war in der Defensive, ihre Kämpfe verwandelten sich immer mehr in Lohnkämpfe, als Inflation und Arbeitslosigkeit ab 1919 anstiegen. Da, wo die Räte dennoch politisch aktiv wurden, fielen sie gegenrevolutionärer Gewalt zum Opfer. Nicht nur revolutionäre Aufstände wurden niedergeschlagen wie etwa die lokalen Räterepubliken in Bremen und München. Auch zivile Streiks wie der Berliner Märzstreik von 1919 wurden vom Militär brutal beendet, allein hier gab es hunderte, wahrscheinlich über tausend Todesopfer.
Postkarte "Rat der Volksbeauftragten" (1918). Quelle: Deutsches Historisches Museum, Berlin
Richard Müller und die Obleute versuchten in dieser Defensive, die Räte irgendwie zu retten. Als die territorialen Arbeiterräte, wie etwa der Groß-Berliner Arbeiterrat oder der Vollzugsrat nicht mehr zu halten waren, versuchten sie wenigstens die Räte in den Betrieben als „Betriebsräte“ mit möglichst vielen Befugnissen in die neue Verfassung zu integrieren. Weitgehende Mitspracherechte im Betrieb und eine Wirtschaftsplanung in Arbeiterhand auf nationaler Ebene waren das Ziel von Müller und Däumig.
In der Tat konnte der Märzstreik 1919 durchsetzen, dass Betriebsräte in der neuen „Weimarer Verfassung“ erwähnt wurden – es gibt sie bis heute in Deutschland. Doch das Betriebsrätegesetz aus dem Jahre 1920 gab ihnen nur wenige Rechte. Die Betriebsräte wurden Vertretungsorgane, die der Unternehmer dulden musste – sie durften sich jedoch nicht in die Produktion einmischen, blieben eine Personalvertretung mit begrenzten Rechten der „Mitbestimmung“.
Auch die von Müller verfochtene eigene Organisation der Betriebsräte in einer „Betriebsrätezentrale“ scheiterte. Die Betriebsräte organisierten sich ab 1920 als Teil der Gewerkschaften – die eigenständige Rätebewegung in Deutschland war vorbei. Ihre Nachwirkung ist jedoch bis heute spürbar. Ohne die Rätebewegung gäbe es heute in Deutschland keine Betriebsräte, ein wichtiges Kontrollorgan auf Seiten der Beschäftigten in den Betrieben würde fehlen.
Auch die erste Demokratie auf deutschem Boden war eine Errungenschaft der Räte – eine Tatsache, die in der allgemeinen Erinnerungskultur lange nicht anerkannt wurde. Dies hat sich mittlerweile geändert – die Rätebewegung ist als demokratische Bewegung anerkannt. In den sozialen Bewegungen Deutschlands ist dieses Wissen schon länger präsent, bereits in den 1960er Jahren wurden die Schriften Richard Müller in Gewerkschaften und Studierendenbewegung neu gelesen. Seit den späten 2000er Jahren wurden Teile seiner Schriften ins Englische übersetzt, auch international setzte ein neuer Blick auf die Rätebewegung in Deutschland ein. Sie wurde als eigenständige Bewegung mit sozialistischen und demokratischen Zielen gesehen, die Deutsche Novemberrevolution nicht mehr nur als „gescheiterte Revolution“ gelesen, sondern als demokratisches Gegenstück zur Entwicklung der Russländischen Revolution. Diese Debatten dauern bis heute an.
Trauerzug zur Beerdigung Rosa Luxemburgs am 13. Juni 1919 auf dem Weg zum Friedhof in Berlin-Friedrichsfelde. Quelle: Bundesarchiv
Literatur
Ralf Hoffrogge, Working-Class Politics in the German Revolution. Richard Müller, the Revolutionary Shop Stewards and the Origins of the Council Movement. Haymarket Press, Chicago 2015.
Ralf Hoffrogge, Richard Müller, Eine Geschichte der Novemberrevolution, Berlin 2011.
Ральф Хоффрогге, Массовые забастовки в теории и на практике: Рихард Мюллер, Роза Люксембург и ноябрьская революция 1918 года (2009).